Dienstag, 3. Dezember 2013

Ukraine

Die Ereignisse in der Ukraine bieten wieder einmal ein wunderschönes Beispiel für – höflich formuliert – selektive Berichterstattung. Worum geht es im Kern? Seit 1991 hat die Ukraine faktisch ihr ganzes Industrie- und Rohstoffvermögen an eigene und teilweise auch russische Oligarchen verkauft. Die KP als letzte real verbliebene linke Kraft in der Rada – dem Parlament – ist mit 13,18% vertreten. Sozialisten und Sozialdemokraten gibt es nicht mehr. Alle anderen Parteien sind rechtsliberal, rechtskonservativ oder gleich faschistisch wie die "Swoboda" Bewegung.

Svetlana ist Studentin in Lemberg. Seit Wochen ist sie mit ihren Kolleginnen und Kollegen im Streik. Faktisch alle Studenten in der Ukraine befinden sich im Streik. Es geht nur vordergründig um das EU-Assoziationsabkommen. Die eigentliche Ursache liegt darin, dass Studierende in der Ukraine ein mehr als karges Leben führen. Für Menschenunwürdige Unterkünfte in den Studentenheimen muss ein Vermögen bezahlt werden. Dazu kommen noch Schmiergelder, ohne die eine Inskription unmöglich ist. Dafür ist die Kost in der Mensa schmal. Man witzelt oft, dass die Regierung schlanke Jugendliche wünsche und sie daher auf Diät hielte. Es ist aber so, dass speziell die jungen Intellektuellen im ganzen Land sich eher eine beruflich Zukunft in der, bzw. durch die EU, erhoffen. Sewtlana war auch in Kiew. Sie hatte Glück, Kiew verlassen zu können, bevor es zu den Ausschreitungen in der Nacht von 30. November auf den 1. Dezember kam.

Vordergründig scheint Svetlana nationalistisch und klerikal zu sein. Sie gehört der Griechisch-Katholischen Kirche an und singt am Sonntag häufig in der Kirche. Auch die von ihr verfassten Gedichte triefen vor Nationalstolz. Doch täusche man sich nicht. Ihre Leidenschaft ist das Schreiben und die Musik. Gäbe es noch die Sowjetunion, würde sie keine nationalen sondern linke Gedichte verfassen und Arbeiterlieder beim KOMSOMOL singen.

Es war für die politischen Beobachter in der Ukraine einigermaßen überraschend, dass sich die Partei der Regionen und der Präsident Wiktor Janukowitsch für das Abkommen mit der EU aussprachen. Blickt man jedoch in das Portfolio der wesentlichen Politiker, wird schnell klar, dass diese handfeste persönliche wirtschaftliche Interessen haben. Wie Julia Tymoschenko ist aus Janukowitsch Multimilliardär. Abseits persönlicher Rivalitäten decken sich ihre wirtschaftlichen Interessen in erstaunlicher Weise. Der Unterschied besteht darin, dass Janukowitsch finanzielle Hilfe aus Rußland bekommt, während Timoschenko eher auf die amerikanische Unterstützung der Soros Stiftung baut. Die Realpolitik der beiden unterschied sich kaum. Dass die Ära Timoschenko heute von vielen verklärt wird, liegt an der allgemein besseren Wirtschaftslage in ihrer Amtszeit. Der wirtschaftliche Niedergang des Landes verlangsamte sich ein wenig in dieser Zeit. Auch gelang es ihr, einen Teil der Sparkonten, die seit dem Ende der Sowjetunion eingefroren waren, auszubezahlen.

Nikolai ist Svetalnas Onkel. Offiziell ist er arbeitslos. Seinen Job in der Chemiefabrik gibt es nicht mehr. Doch bereits als er diesen Job hatte hat er nebenbei "schwarz" in einer Mineralwasserfabrik gearbeitet. Zwei Vollzeitjobs (eine 80 Stunden Woche) ist eine verbreitete Überlebensstrategie in der Ukraine. Nikolai ist begeistert von Belarus. Oft trauert er auch der sozialen Sicherheit in der Sowjetunion nach. Dennoch hat er als Westukrainer ein ausgeprägte Aversion gegen Polen und Russen. Dies ist durchaus aus der Geschichte seiner Heimat begreiflich. Die Wurzel der antirussischen Reflexe liegt im Zarenreich.

Persönlich ist Nikolai ausgesprochen friedlich und hilfsbereit. Politisch unterstützt er die Swoboda-Bewegung. Zwar erklärt er dass Nationalismus grundsätzlich schlecht sei, die Swoboda-Leute hingegen seien gute Nationalisten. Denn sie seien nicht prinzipiell gegen andere, sondern nur speziell gegen Russen.

Wahrscheinlich wären die Proteste ohnehin bald abgeflaut. Doch das harte Vorgehen der Sicherheitskräfte hat das Land geeint. Es waren nun die Eltern der Studierenden, die auf die Straße gingen. Während die Medien im Westen von diversen politischen Absichten fabulierten, während Politchaoten und Faschisten medienwirksam versuchten die Proteste zu vereinnahmen, ging es den Menschen in erster Linie um eine Demonstration gegen die Staatsmacht. Krönendes Beispiel war die Berichterstattung über Aktionen der „Femen“ einer exhibitionistischen Clowngruppe, die in der Ukraine schon lange niemand Ernst nimmt. Jeder hat deren Titten oft genug gesehen.

Sofia ist Lehrerin. Sei Monaten hat sie kein Gehalt mehr bekommen. Auch sie ist zutiefst frustriert. Als Witwe hat sie zwei studierende Kinder. Ohne „Trinkgeld“ würde sie glatt verhungern. Ihre Tochter arbeitet in einer Disko als Kellnerin. Sie verdient ein vielfaches ihrer Mutter und gibt ihr manchmal Geld. Die Akademikerin ist auf die Unterstützung ihrer studierenden Tochter angewiesen, die als Kellnerin mehr verdient, wie eine angesehene Lehrerin. Während die Partei der Regionen den Verwaltungsapparat organisatorisch wieder nach sowjetischen Muster aufbaut, kann von Sozialleistungen oder wenigstens pünktlicher Bezahlung der Staatsbediensteten keine Rede sein.

Wirtschafts- und Geopolitisch bleibt die Ukraine Spielball. Russland hat viel Kredit verspielt. Denn auch wenn unter Janukowitsch das Gas pünktlich geliefert wird, so sind 420 $ pro Kubikmeter sehr deftig. Auch die Stationierungskosten für die Schwarzmeerflotte, durch Staatsverträge garantiert, werden seit Jahren nicht bezahlt. Geld das im Ukrainischen Staatshaushalt fehlt. Diese Kolonialpolitik lässt auch im Osten, der traditionell Russlandfreundlich ist, die Sympathien für den großen Nachbarn schwinden.

Im Westen des Landes, wo Swetlana, Nikolai und Sofia leben, finden Nationalisten und Faschisten einen hervorragenden Nährboden. Wie auch immer der aktuelle Konflikt ausgeht, in der Ukraine lagert noch genug politischer Sprengstoff um halb Europa in die Luft zu jagen. Und in Moskau und Brüssel wird weiter gezündelt.

Über mich

Mein Name ist Werner Rochlitz. Ich bin 37 Jahre, verheiratet und habe drei Kinder. Beruflich bin ich Sekretär in der Gewerkschaft der Privatangestellten, Druck Journalismus, Papier. Über meine Hobbies verrate ich nur das Lesen und Filme dazu gehören und das ich mich für das Eisenbahnmuseum Schwechat einsetze. Ich wohne in Klosterneuburg und arbeite in St. Pölten. Besonders freue ich mich über Kommentare zu meinen Blog. Meine Adresse ist w.rochlitz@gmx.net Ich bin auch auf Facebook, zu finden.

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